Heimunterricht für die Kinder im Slum
So wie hier in Deutschland sind auch in Indien die Schülerinnen und Schüler zu Hause. Am 16. März wurden in Westbengalen alle Bildungseinrichtungen zum Schutz gegen das Coronavirus geschlossen. Aber auch für die Schüler und Schülerinnen der Calcutta Rescue Schulen muss der Unterricht irgendwie weiterlaufen. Am Schreibtisch zu Hause? Das wohl eher nicht.
Was Heimunterricht in einem Slum bedeutet ist gar nicht so einfach vorstellbar. Die Kinder leben oft mit ihrer ganzen Familie in einem mehr oder weniger kleinen Raum, zu fünft oder sechst. Dort wird geschlafen, gegessen, gekocht, gelernt, gestritten, gespielt, und noch so einiges mehr. Manche haben noch nicht einmal ein festes Dach über dem Kopf und leben mit Geschwistern, Eltern oder auch Großeltern unter einer Brücke oder Plane.
In den warmen Sommermonaten, und jetzt im April steigt bereits mit jedem Tag die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit an, ist das Lernen zu Hause im Slum oder auf dem Bürgersteig noch viel schwieriger. Konzentration ist auf diese Weise nicht immer da. So hatte Calcutta Rescue die Abendstunden in der Schule vor einigen Monate für die älteren Schüler zum Lernen ausgedehnt und das wurde zahlreich von ihnen wahrgenommen.
Aber zurück zum momentanen Lockdown. Dieser Lockdown heißt, dass man auch gar nicht mehr auf die Straße gehen darf und alles sehr streng von der Polizei überwacht wird. Etliche Tage und Wochen nur in der Familie, dicht auf dicht, Zimmer an Zimmer, Hütte an Hütte mit allen anderen Familien im Slum.
Nicht selten sind die Eltern Analphabeten, was das Heimunterrichten noch etwas schwieriger gestaltet und manche Eltern sind gerade so überzeugt worden, dass ihre Kinder eine Schulbildung für eine bessere Zukunft haben sollten. Einige der Eltern hätten sehr viel lieber, dass die Kinder, so jung sie auch sind, direkt zum Lebensunterhalt der Familie dazu arbeiten. Auch spielt Gewalt und Missbrauch in manchen Familien eine Rolle. In diesen Situationen ist Calcutta Rescue ein wichtiger Ort, um den Kindern und Jugendlichen die nötige Unterstützung und Rückendeckung für zu Hause zu geben.
Umso bedeutender ist jetzt nicht nur, dass die Schüler und Schülerinnen weiterlernen, um nicht den Anschluss zu verlieren, sondern auch, dass sie gezielte psychologische Unterstützung erfahren.
Und so sieht es aus:
Die Lehrer und Lehrerinnen von Calcutta Rescue haben Arbeitsblätter und Fragen für die 650 (!) Kinder vorbereitet, die die beiden Schulen der Hilfsorganisation besuchen, und sie bieten Einzelunterricht und Tests am Telefon an. Gleichzeitig können sie hören, wie es den Kindern geht, ob Probleme oder Konflikte zu Hause entstanden sind.
Diejenigen Schüler und Schülerinnen, deren Eltern Smartphones besitzen, machen Fotos von ihrer Arbeit mit WhatsApp, und die Lehrer korrigieren sie und schicken ein Foto zurück.
Die, die das nicht haben, nutzen ein Smartphone der Nachbarn oder erhalten die Aufträge über ein einfaches Handy, welches in der Familie vorhanden ist.
Ananya Chatterjee, die Leiterin der Bildungseinrichtungen von Calcutta Rescue, sagt, dass ihre Lehrer und Lehrerinnen von zu Hause aus extrem fleißig arbeiten, um zu verhindern, dass die Schüler mit ihrem Studium ins Hintertreffen geraten: "Die Zeit ist für uns alle sehr wichtig. Wir sind über Lehrer, Gemeindehelfer und Elternbeiratsmitglieder in ständigem telefonischen Kontakt mit unseren Schülern.”
Sozialarbeiterin Suchandra und Berufsberaterin Tuli haben ebenso eine ganz wichtige und aktive Rolle. Sie sprechen mit den Eltern am Telefon, beraten die Schülerinnen und Schüler und haben jederzeit ein offenes Ohr und einen hilfreichen Ratschlag, so dass sie bei Schwierigkeiten schnell handeln können.
Das erzählen die Kinder aus dieser Zeit
Die Schülerinnen und Schüler wurden aufgefordert ihre persönlichen Erfahrungen verbal oder als Zeichnung festzuhalten. Davon möchten wir hier etwas teilen:
Arpita, 11 Jahre alt, aus einem Slum im Norden Kalkuttas:
„Wir sind die ganze Zeit alle in unserem einen Zimmer. Meine Mutter kocht Essen und mein Vater rügt meinen Bruder, der sich nicht benimmt. Ich helfe meiner Schwester bei ihren Schulaufgaben und mache meine, die mir die Lehrer von Calcutta Rescue nach Hause gegeben haben. Während dieser Zeit können wir nicht raus.“
Ekra, 6. Klasse, aus einem benachbarten Armutsviertel:
„Mein Vater ist ein Tagelöhner und hat durch den Corona-Ausbruch seine Arbeit verloren. Das ist nicht nur bei meinem Vater passiert, sondern auch bei vielen anderen Menschen in unserer Nachbarschaft. Wir beten, dass bald alles normal wird, denn das sind große Probleme.
Calcutta Rescue hat mir einen großen Beutel mit Nahrungsmitteln gegeben, was für mich und meine Familie eine Hilfe ist. Wir haben unsere eigenen Masken und Desinfektionsmittel zu Hause hergestellt, die wir regelmäßig benutzen. Meine Lehrerin gibt mir Hausaufgaben, und so geht mein Studium weiter, aber ich vermisse meine Freunde, meine Schule und meine Lehrer.“
Aryan, 10 Jahre alt, hat auch ein Bild gemalt und wenn er aus dem Fenster seines Hauses schaut, hat er noch nie einen so klaren Himmel gesehen.
Das liegt daran, dass der dreiwöchige Corona-Lockdown die Umweltverschmutzung in der Stadt drastisch reduziert hat.
„Ich kann jetzt einen klareren Himmel sehen, aber nur von meinem kleinen Haus aus. Ich möchte in die Schule gehen und mit meinen Freunden spielen."
Und Simran aus der 5. Klasse sagt: „Ich trage die meiste Zeit eine Maske, weil ich in einem kleinen Raum wohne und es viele Menschen in unserer Gegend gibt.“
Er hat sich damit gemalt.
Krishnendu Das, 8. Klasse, erzählt: “Ich habe Glück, dass meine Calcutta Rescue Lehrer jetzt über WhatsApp mit mir verbunden sind und ich kann einige Hausaufgaben machen, aber ich spiele gerne im Freien. Ab jetzt kann ich nicht mehr nach draußen gehen, da die Polizei in unserem Slum strengstens wacht. Ich vermisse meine Schulfreunde von CR, ich vermisse den Spaß dort. Hier in unserem Slum haben einige Geschäfte geöffnet, aber wir dürfen nicht hingehen, da wir nicht erwachsen sind. Die Kinder haben alle Angst vor der Polizei, also sind alle still. Ich bin schnell mit meinen Aufgaben fertig, deshalb langweile ich mich.”
Neben Heimunterricht und psychologischer Betreuung, werden die Schüler und Schülerinnen und ihre Familien auch mit Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Dinge von Calcutta Rescue versorgt, denn die täglichen Mahlzeiten in den Schulen fallen weg und viele der Eltern haben aktuell keinen Verdienst mehr, da es kaum Arbeit gibt.
Schüler wie Lehrer hoffen sehr, dass bald alles wieder seinen normalen Gang gehen kann mit Unterricht, Spielen, Sport und einfach Zeit mit Schulfreunden verbringen.
Und doch sieht Ananya auch folgendes: „Diese Pandemie hat uns weitaus widerstandsfähiger und anpassungsfähiger gemacht! Wir werden sicherlich mit neuen Denkansätzen aus dieser Situation hervorgehen.“